Tabula scripta Ouest Lausannois. Über Jahrzehnte hinweg haben gesellschaftliche Anliegen im Westen von Lausanne die Stadtentwicklung bestimmt und sich in die Raumstrukturen eingeschrieben. Diese Gemeindegrenzen überschreitenden Raumstrukturen hat das Architekturbüro Feddersen & Klostermann als Grundgerüst für das städtebauliche Konzept und den Richtplan (SDOL) für Ouest lausannois aufgenommen. Mit dem Richtplan SDOL (Schéma directeur Ouest lausannois) war es für Ariane Widmer (einstmalige Amtsleiterin des Bureau SDOL) möglich, im Alltag der städtebaulichen Praxis mit unterschiedlichen Akteuren in Kontakt zu treten und bauliche Einzelmassenahmen zueinander in Beziehung zu setzen. Das ganze Gebiet wurde mittels Velo- und Fussgängerwegen, sowie ÖV-Angeboten besser erschlossen, Entwicklungsschwerpunkte für die bauliche Entwicklung wurden festgelegt und Investitionstätigkeiten koordiniert © Feddersen & Klostermann
1. Februar 2022
Stefan Kurath | Baukultur persönlich
Baukultur - oder wie das Gute in das Gebaute kommt
Über die Notwendigkeit gesellschaftlicher Verbindungen in Architektur und Städtebau
Die heutigen Stadtlandschaften sind Resultat gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Sie sind von Unbestimmtheiten und ungeheuren Entwicklungsdynamiken geprägt. Gleichzeitig existieren Regeln und formalisierte Verfahren, innerhalb derer sich unterschiedlichste Akteur*innen mit widersprüchlichsten Interessen begegnen, arrangieren oder sich zu umgehen versuchen in der Notwendigkeit, ihre Bedürfnisse in gebauten Raum zu übersetzen.1 Es sind dies die groben Eckpunkte heutiger Baukultur. Die daraus hervorgehende Raumqualität entspricht in der Regel jedoch nicht den Vorstellungen der Personen, die sich tagtäglich mit Architektur, Stadt und Landschaft beschäftigen.
Aufwertung des Stadtraums Temple de Chavannes in Ecublens, der im Richtplan als Orientierungspunkt gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse mit anderen Massnahmen in Beziehung gesetzt wird © Matthieu Gafsou
Gemäss dem Kunsthistoriker Stanislaus von Moos sei dies für jene ärgerlich genug. ‚Für den Ethnologen hingegen ist es gelebte Populärkultur […]. Physische Planung ist in diesem Tohuwabohu weitgehend ein frommer Wunsch und sogenannt ‚hohe Baukultur’ eine ebenso seltene wie erfreuliche Abwechslung. Umso besser, wenn es gelingt, dem Tag für Tag Erbrochenen ab und an eine Architekturpreziose beizumischen, da und dort einen kräftigen oder eben, ‚Qualitäts-Akzent’, zu setzen.’2
Der Place du Marché in Renens von Localarchitecture und Paysagestion ist eine weitere Aufwertungsmassnahme, die über die Festlegung eines Entwicklungsschwerpunktes keine Einzelmassnahme darstellt, sondern in Relation steht zu anderen Aufwertungsmassnahmen des öffentlichen Raumes und so im Gesamtraum Ouest lausannois wichtig ist © Matthieu Gafsou
Ja. Es ist ärgerlich. Im Gegensatz zum Ethnologen, der vor allem beobachtet und beschreibt, ist es für die ambitionierten, gestaltungswillig handelnden Akteur*innen jedoch nicht genug, sich mit dem Status quo zufrieden zu geben. Denn bei allem Realismus gilt auch: ‚Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat.’3
EPFL Campus mit Rolex Learning Center von Sanaa als weiterer Entwicklungsschwerpunkt von internationaler Bedeutung für Ouest lausannois in Abstimmung mit dem Richtplan SDOL © Matthieu Gafsou
Ein Besuch in Bibliotheken, Archiven, Hochschulen zeigt aber auch: Es fehlt nicht an Ideen, wie gute Architektur, eine gute Stadt, gute Landschaft auszusehen habe. So wie es auch nicht an Kriterienkatalogen fehlt, die ganz genau aufschlüsseln, was eine gute Idee ausmacht. Archive, Bibliotheken und Excel-Tabellen sind voll davon. Die Frage ist: Warum aber entfaltet dies kaum die erwünschte Wirkung?
Vielleicht, weil wir uns lieber mit den Ideen und Kriterien und weniger mit der Wirkung von Planung befassen. Schaut man auf Preziosen in Architektur und Städtebau, wie man sie in Vrin, Vals, Monte Carasso oder Ouest lausannois findet, und fragt sich, weshalb es hier möglich war, die Konturen der Stadtlandschaften architektonisch und städtebaulich mitzubestimmen, zeigt sich, dass sich die Protagonist*innen Gion A. Caminada, Peter Zumthor, Luigi Snozzi, Pierre Feddersen oder Ariane Widmer Pham nicht auf ihren Ideen ausgeruht haben. Vielmehr haben sie tagtäglich über Jahre hinweg Bauherrschaften, Verwaltungen, Nachbarn, Bevölkerung, Bauunternehmen, Gewerbetreibende, Fachplaner*innen, Technologie, Finanzen, Bagger, Bauarbeiter, Topografie immer wieder von neuem hinter ihren architektonischen und städtebaulichen Ideen zu versammeln gewusst – und zwar vom ersten Gedanken bis zur letzten Schraube wie auch darüber hinweg.4 Nur so war es möglich, Handlungsketten so zu verlängern, dass sich Ideen in die gebaute Umwelt übersetzten - denn kein Akteur, keine Akteurin handelt alleine.
Luigi Snozzi hat in Monte Carasso basierend auf den bestehenden Dorfstrukturen und räumlichen Vorstellungen Regeln festgelegt, wie das Dorf in seiner lokalen Eigenart entwickelt werden kann. Was sich als Idee etabliert hatte, musste über langwierige Aushandlungsprozesse in Zonenplan und Baugesetz übersetzt werden. Ein Resultat dieser Aushandlungsprozesse ist beispielsweise die Ansiedlung von Schule und Gemeindeverwaltung im ehemaligen Kloster im Dorfzentrum, in der Absicht dieses wieder zu beleben © Stefania Beretta
Die Kunst der Architekt*innen, Landschaftsarchitekt*innen, Planer*innen liegt also nicht nur darin, gute Ideen zu haben oder Kriterien zu formulieren, sondern auch darin, diese innerhalb gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zirkulieren zu lassen, Allianzen dafür zu schmieden und sich dabei unentbehrlich zu machen. Und schliesslich darin, das Kollektiv der Allianzen über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinweg lebendig zu erhalten.5
Das Haus des Bürgermeisters war eine erste Baute, die Snozzi nach den neuen ortsbaulichen Regeln in Monte Carasso erstellt hat. Dieser Bau war wichtig, um die Dorfbewohner*innen von den ortsbaulichen Ideen zu überzeugen, um die Regeln allgemein verbindlich festsetzen zu können © Stefania Beretta
Das Ziel einer hohen Baukultur erfordert also weniger eine andere Architektur, eine andere Stadt, eine andere Landschaft - wie oftmals gefordert -, geschweige denn eine andere Gesellschaft, als vielmehr eine andere Sichtweise auf Verbindungen wie Bedingtheiten.
Ein erster Schritt wäre es, die gebaute Umwelt als ‚tabula scripta’ zu begreifen, wie Tom Avermaete es in einem Blogbeitrag 2021 ausgeführt hat6: Gesellschaftliche Anliegen, die entwerferisch aufgenommen und verlängert werden können, sind darin bereits eingeschrieben.7 Zusätzlich aber ist es an der Zeit, den architektonischen und städtebaulichen Alltag als «tabula rotonda» zu verstehen, also eine Art Rundgemälde, das von allen Seiten von immer anderen Akteur*innen mit stets neuen Interessen und Anliegen bekritzelt wird. Hier entscheiden sich die zukünftigen Konturen von Architektur, Stadt, Landschaft, denn hier lassen sich lokal-spezifisch die dafür notwendigen Allianzen bilden und Verbindungen zu einer Raumidee herstellen. «Städtebau ist immer auch Gesellschaft und umgekehrt», wie es der Städtebauhistoriker Angelus Eisinger schlüssig formuliert. (8) In diesem Verständnis dürfte auch klar sein, dass der oft vertretene Standpunkt einer ‚Autonomie der Architektur’ - also einer Architektur, die Ausserarchitektonisches bewusst ausblendet - nicht die beste Verhandlungsbasis ist, um in diesem Karussell einigermassen stabile Allianzen zu bilden. Genauso wenig, wie es nicht zielführend ist, klein beizugeben und sich als Erfüllungsgehilfe anzudienen, wenn man denn Struktur, Form und Gestalt des Gemäldes mitbestimmen will.
Schritt für Schritt sind in Monte Carasso weitere Neubauten wie z.B. das Haus Morisoli von Snozzi entstanden. Über die Reduktion der Mittel und geprägt von lokalen Gesetzmässigkeiten wie z.B. die Abfolge von Haus, Hof, Strasse, hat Snozzi dabei seine räumlichen Vorstellungen konkretisiert. Das Bauen auf die Grenze wurde zur Voraussetzung, um die kleinteiligen Parzellenstrukturen überhaupt sinnvoll und (der Strasse gegenüber) raumbildend zu entwickeln. Heute - rund 40 Jahre nach den ersten Initiativen durch Luigi Snozzi – zeigt sich die nachhaltige und langfristige Relevanz dieses Regelwerks in der ortsbaulichen Struktur deutlich © Stefania Beretta
Der Anfang einer hohen Baukultur liegt also im Erkennen, wie Vorstellungen von Architektur, Stadt und Landschaft (wieder) in Verbindung mit der Gesellschaft gebracht werden können. Dies erfordert von Architekt*innen, Landschaftsarchitekt*innen, Planer*innen - nebst einer Idee - ihre ganze intellektuelle, handwerkliche, strategische, taktische und diplomatische Leistungsfähigkeit. Nur so bleibt die Idee und deren disziplinäre Bestimmung erhalten, ihre Reichweite aber nimmt in den Verbindungen zur Gesellschaft noch zu und erreicht ungeahnte architektonische, städtebauliche, gemeinschaftliche, ökologische und ökonomische Dimensionen, wie die bereits erwähnten Beispiele Vrin, Vals, Monte Carasso oder Ouest lausannois eindrücklich beweisen.
Was habe ich persönlich daraus gelernt? Gute Architektur, Landschaft oder Planung sind auf eine hohe Baukultur angewiesen. Gute Praxis trägt wesentlich dazu bei. Darum jetzt: die Architektur, die Landschaftsarchitektur, die Planung!
Stefan Kurath
*1976 in Thusis denkt, schreibt, spricht als Architekt und Urbanist über die Architektur der Stadt des 21. Jahrhunderts. Er führt sein eigenes Architekturbüro www.urbaNplus.ch in Zürich und arbeitet eng zusammen mit Ivano Iseppi in Graubünden www.iseppi-kurath.ch. Gleichzeitig leitet er zusammen mit Regula Iseli das Institut Urban Landscape am Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen der ZHAW. Soeben ist sein neustes Buch Jetzt: die Architektur! Gegenwart und Zukunft der architektonischen Praxis bei Park Books erschienen.
1 Stefan Kurath, Stadtlandschaften Entwerfen? Grenzen und Chancen der Planung im Spiegel städtebaulicher Planung, Transcript: Bielefeld, 2011, S.443 ff.
2 Stanislaus von Moos, ‚achtung: Baukultur’, in: Hochparterre, 5, 2019, S.16.
3 Lucius Burckhardt, Max Frisch, Markus Kutter, achtung: die Schweiz, Handschin: Basel, 1955, S.3.
4 Siehe dazu: Stefan Kurath, Jetzt: die Architektur! Über Gegenwart und Zukunft der architektonischen Praxis. Park Books: Zürich, 2022, S. 80. ff.
5 Siehe dazu: ebd., S. 212.
6 https://www.stiftung-baukultur-schweiz.ch/blog/baukultur-lebt-nicht-von-der-tabula-rasa (Zugriff: 20.1.2022).
7 Stefan Kurath, ‚Über Dinge im Städtebau’ in: Andri Gerber et al, Morphologie von Stadtlandschaften, Reimer Verlag, S. 251-260.
8 Angelus Eisinger, Städte bauen. Städtebau und Stadtentwicklung in der Schweiz 1940-1970, gta Verlag: Zürich, 2004, S. 280.