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Baukulturen der Schweiz 1945-1975 / Kontexte - Strategien - Perspektiven

Forschung reflektiert und schärft Baukultur © Torsten Korte

31. Mai 2022
Harald R. Stühlinger, Christina Haas, Torsten Korte, Anne-Catherine Schröter | Baukultur persönlich

Baukulturen der Schweiz 1945-1975 / Kontexte - Strategien - Perspektiven

Das Forschungsprojekt ‚Baukulturen der Schweiz 1945-1975’ untersucht die gebaute Umwelt in den Jahren des Wirtschaftsbooms der ‚Trente Glorieuses’. In dem vom SNF-geförderten und an der Fachhochschule Nordwestschweiz angesiedelten Forschungsprojekt geht es uns sowohl um das konkret Gebaute als auch um die Prozesse und Diskurse, die das Bauen in den Jahren zwischen 1945 und 1975 geprägt haben - kurz gesagt um das, was heute als Baukultur bezeichnet wird. Mit unserer Forschung wollen wir neue Erkenntnisse über das baukulturelle Geschehen während des Untersuchungszeitraums gewinnen und gleichzeitig einen Beitrag zu aktuellen Diskursen um Baukultur leisten.

Das grosse Bild

Ausgangspunkt unseres Forschungsprojekts sind drei Büros, die für die Baukultur in der Zeit zwischen 1945 und 1975 als repräsentativ erachtet werden: AAA (Lausanne), Giovanni Lombardi (Locarno) und Suter + Suter (Basel). Sie wurden bewusst ausgewählt, weil sie nicht in der ersten Reihe der bekannten Schweizer Architektur jener Zeit stehen, aber ein umfassendes und nicht minder bedeutsames Œuvre hinterlassen haben. Daneben werden weitere Akteure einbezogen, wie etwa das Militär, die Strassenbaubehörden, die PTT und andere.

Mit den ausgewählten Büros und den wichtigsten nationalen Institutionen sind pars pro toto diejenigen Planenden und Entscheidungsträger*innen in den Fokus genommen, die zu Zeiten einer massiv gesteigerten Bauproduktion aktiv waren und die gebaute Umwelt der Schweiz bis heute wesentlich prägen.

Baukulturen der Schweiz 1945-1975 / Kontexte - Strategien - Perspektiven

Ein für ein Architekturbüro ungewöhnliches Projekt mit grosser Auswirkung auf das Territorium ist das Wärmekraftwerk Centrale thermique Chavalon-sur-Vouvry (1964–1967) des Architekturbüros AAA im Wallis © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Com_FC27-0002-003 / CC BY-SA 4.0

Baukulturen der Schweiz 1945-1975 / Kontexte - Strategien - Perspektiven

Das Stadtverwaltungsgebäude Immeubles administratifs, commerciaux et culturels Chauderon (1970–1974) in Lausanne bildet den städtebaulichen Diskurs der 1960er-Jahre ab: Fussgänger*innen erhalten autonome Wege innerhalb des Ensembles © Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Das Architekturbüro Atelier des Architectes Associées (AAA) wurde 1961 von sieben jungen Architekten gegründet: Guido Cocci (1928-2010), Alin Décoppet (1926-2015), Nicolas Petrovitch-Niegoch (1924-2017), Léopold Veuve (*1939), René Vittone (*1927), Michel-Robert Weber (1928-2000) und Roland Willomet (1926-2018). Sie alle hatten an der Ecole Polytechnique de l’Université de Lausanne EPUL (heute EPFL) studiert. Sie schlossen sich zusammen, um grössere Projekte als Kollektiv umzusetzen. Der zentrale Gemeinschaftsgedanke von AAA spiegelte sich sowohl in der Büroorganisation als auch in ihren Projekten wider. Die Gründungsmitglieder interessierten sich insbesondere für innovative Baumethoden, etwa die Vorfabrikation. AAA wurde während seiner kurzen Existenz - das Büro wurde bereits 1976 aufgelöst - für Wohn- und Schulbauten bekannt, darunter das Quartier de l’Ancien Stand in Lausanne (1963-1965), aber auch für das Vorfabrikationssystem Centre de rationalisation et d’organisation des constructions scolaires (CROCS, 1965-1973). Darüber hinaus setzten sie Verwaltungs- und Industriebauten im städtischen aber auch territorialen Kontext um.

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Die Verzasca-Staumauer (1955-1965) gehört zu den bekanntesten Bauten Lombardis, nicht zuletzt durch den Film GoldenEye (1995). Die Bogenstaumauer zeichnet sich durch ihre innovative schlanke Konstruktionsweise und die Gestaltung der seitlichen Kanäle für die Hochwasserentlastung aus © Wikimedia Commons (CC CC BY-SA 3.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

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Das Wasserkraftwerk Nuova Biaschina (1961-1967) entstand in Zusammenarbeit mit dem Architekten Augusto Jäggli und ist beispielhaft für das enge Verhältnis von Architektur und Ingenieurbaukunst. Wie die Verzasca-Staumauer ist auch dieses Kraftwerk Zeugnis der wirtschaftlichen Entwicklung im Tessin der Nachkriegszeit © AET Azienda Elettrica Ticinese (Lucasdesign SA, Giubiasco)

Die Bauten des Ingenieurs Giovanni Lombardi (1926-2017) prägen die gebaute Umwelt in einem grossen Massstab, sowohl durch ihre markante Erscheinung als auch durch ihre infrastrukturelle Bedeutung. Lombardi war einer der einflussreichsten Schweizer Bauingenieure der Nachkriegszeit, der insbesondere für Tunnel und Staudämme bekannt wurde. 1955 gründete er gemeinsam mit dem Ingenieur Giovanni Gellera ein Büro in Locarno, das er ab 1965 allein weiterführte und aus dem die noch heute bestehende Lombardi Gruppe hervorging. In den 1950er- und 1960er-Jahren realisierte Giovanni Lombardi Projekte vor allem im Tessin, später auch im europäischen und internationalen Ausland.

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Mit dem Postbetriebsgebäude Basel 2 (1971-1980) erprobte das Architekturbüro die Möglichkeit, innerhalb der dicht bebauten Stadt neue Flächen zu erschliessen - das Konzept wurde auch in anderen Städten diskutiert, für unterschiedliche Baugattungen © Julian Salinas

Baukulturen der Schweiz 1945-1975 / Kontexte - Strategien - Perspektiven

Suter + Suter realisierten mehrere Gesamtplanungen von Industriearealen, etwa für CIBA und CIBA-GEIGY (heute Novartis) auf dem Klybeckareal in Basel, in Stein (AG) oder Monthey (VS). Das ikonische Biologie-Hochhaus (1963-1966) auf dem Klybeckareal prägt das Basler Stadtbild bis heute © Julian Salinas

Ebenfalls international tätig war das in Basel ansässige Architekturbüro Suter + Suter. Hervorgegangen aus dem Büro Suter und Burckhardt, nannte es sich nach der Übernahme durch Hans Rudolf Suter (1908-2001) und Peter Suter (1914-1998) ab 1945 Suter + Suter. In den folgenden 50 Jahren entwickelte sich Suter + Suter von einem lokalen Planungsbüro zu einem Generalunternehmen mit zweitweise über 1'000 Mitarbeitenden. Ein Schwerpunkt der Bauproduktion lag stets in und um Basel, gleichzeitig bauten Suter + Suter in der ganzen Schweiz, im angrenzenden Ausland und in Übersee, etwa in Indien oder den USA. Zu ihren Spezialitäten gehörte die Gesamtplanung von Industrieanlagen, grosse Verwaltungs- und Geschäftsbauten für Industrie und Banken sowie öffentliche Grossanlagen wie Spitäler.

Der Ausblick auf die Zukunft

Dabei liegen unseren Untersuchungen folgende zentrale Fragen zugrunde: Welche Mechanismen bestimmten das Baugeschehen in der Zeit zwischen 1945 und 1975 im Wesentlichen? Und inwiefern decken sich diese mit dem heutigen Begriff von Baukultur? Durch eine tiefgehende Analyse der Bauproduktion und der ökonomischen, sozialen, ökologischen und technischen Kontexte entsteht ein umfassendes Bild der Veränderungen in der gebauten Umwelt in jenen dreissig Jahren. Gleichzeitig bieten unsere Untersuchungen die Chance, den Begriff der Baukultur für die aktuellen Debatten zu vertiefen und zu schärfen. So wollen wir mit dazu beitragen, Fragen zur Entstehung des heutigen Baukulturbegriffs, zu Themen der Nachhaltigkeit und zur Rolle des Bestands für die zeitgenössische Bauproduktion zu beantworten.

Harald R. Stühlinger, Christina Haas, Torsten Korte, Anne-Catherine Schröter

Harald R. Stühlinger *1970 in Kapfenberg (AT), studierte Architektur an der TU Wien und dem IUAV Venedig sowie Kunstgeschichte an der Universität Wien. Promotion an der ETH Zürich über den Wettbewerb zur Wiener Ringstrasse 1858. Zahlreiche Publikationen im Bereich der Architektur-, Städtebau- und Fotografiegeschichte. Seit 2017 Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz.


Christina Haas *1989 in Pawlodar (UdSSR), studierte Architektur an der HCU Hamburg und EPF Lausanne. Tätigkeiten als Architektin bei Dorte Mandrup in Kopenhagen, Futurafrosch Zürich und GWJ Architektur in Bern. Bis 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundesamt für Kultur, Sektion Baukultur.


Torsten Korte *1984 in Mainz (D), studierte Kunstgeschichte und Philosophie in Bonn und Venedig. Promotion zu Giambattista Tiepolo an der HU Berlin. Lehrtätigkeit an der Ruhr-Universität Bochum, AMD Hamburg und HU Berlin zu Kunst-, Kostüm-, Architekturgeschichte und -theorie.


Anne-Catherine Schröter *1992 in Bern, studierte Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Architekturgeschichte und Monumentenmanagement an der Universität Bern und der Freien Universität Berlin. Tätigkeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der kantonalen Denkmalpflege Zürich sowie beim Bundesamt für Kultur, Sektion Baukultur.



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