Materielle Identität: Bunter Erker in Guarda © Aita Flury
3. Mai 2022
Aita Flury | Baukultur persönlich
Bauliche Identität - Erste Engadiner Architekturtage 21.-23. Oktober 2021 in der Fundaziun Nairs in Scuol - Teil 2
Das von den beiden Architekten Roger Boltshauser und Christian Inderbitzin kuratierte Kolloquium der ersten Engadiner Architekturtage thematisierte die bauliche Identität. Diese kennzeichnet Städte und Dörfer mit einem spezifischen Charakter, unterscheidet sie und macht sie zu Orten. Doch was macht eine derartige Identität aus, wie erhalten oder kreieren wir sie neu? In drei Podiumsdiskussionen zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Engadins wurden diese Fragen mit nationalen und internationalen Gästen diskutiert.
Aussenwahrnehmung des Engadins
Die Teilnehmer*innenrunde der zweiten Paneldiskussion vom 22. Oktober bestand aus den Architekt*innen Momoyo Kaijima (Tokio), Jonathan Sergison (London/Zürich), Jaume Mayol (Palma de Mallorca) und dem Moderator Christian Inderbitzin (Zürich) und stand unter dem Titel ‚Aussenwahrnehmung des Engadins’.
Die Teilnehmer*innen waren sich darin einig, dass sich das räumliche Gesicht des Unterengadins in den letzten 25 Jahren massiv verändert hat - leider nicht zum Guten.
Der schlechte Zustand der Textur. Scuol, Umfahrungsstrasse mit zersiedelten Wohngebieten © Gian Flury
Stradun in Scuol. Neue Massenverhältnisse © Gian Flury
Momoyo Kaijima betonte den starken Eindruck, den die alten Engadiner-Häuser mit ihren dicken Mauern und den kleinen Fenstern schon früh in ihrer Heimat hinterlassen hatten: Aufgrund des in Japan erschienen Buches ‚The Alps’ mit Bildern auch aus dem Engadin hatte sie selber bereits in den 90er-Jahren das erste Mal das Unterengadin (und im speziellen Guarda) besucht und ist seither fasziniert von der räumlichen Schönheit, insbesondere auch der Öffnungen.
Jaume Mayol pochte auf den Zusammenhang zwischen Identität und Wiederholung: Identität drehe sich um die Wiederholung bestimmter Themen wie die Typologie, das Material, die Konstruktionsweise. In einem traditionellen Verständnis wohne dabei jedem neuen Versuch die Absicht inne das Vorhergehende zu perfektionieren, zu verbessern. In Mallorca sei mit dieser Entwicklung ab den 70er-Jahren durch den Einbruch eines gewalttätigen Tourismus komplett gebrochen worden: Neue Typologien wurden implementiert und auf heftigste Weise wiederholt. Diese haben in ihren Dimensionen die Landschaft und das Ökosystem komplett verändert und zu einer komplett neuen Identität geführt.
Jonathan Sergison wies auf die lange englische Faszination für die Alpen hin. Nur schon 1 Haus könne in einem solchen Landschaftsraum massiven Schaden verursachen. Es gehe deshalb immer darum vorsichtig zu sein mit Eingriffen, und sich zu fragen, ob diese wirklich notwendig sind. Wenn sie gemacht würden, müsse ihnen sowohl das Verständnis für die Tradition als auch der Anspruch auf Zeitgemässheit innewohnen. Mit Student*innen der Accademia in Mendrisio hat er solche Fragen im Rahmen eines Entwurfsstudios für das Valle Muggio - ein ruhiges Tal oberhalb von Mendrisio - untersucht.
Christian Inderbitzin stellte die Frage in den Raum, ob denn nicht ein solch ‚geschlossenes’ Tal wie das Unterengadin - das eben trotz seines baulichen Zustandes immer noch eine geografische Entität ist - der ideale Ort wäre, um alternative Formen zu testen, in einer Art Laborsituation. Das Echo auf den Vorschlag der ‚alpinen Brachen’ aus dem städtebaulichen Portrait des Studio Basels damals habe nur aufgezeigt, dass die Menschen in der Schweiz nicht bereit sind ‚mehr Natur’ zu akzeptieren, nicht, dass nicht grundsätzlich neue ‚common ground’ Formen denkbar sind.
Intakte Stellen in der Textur. Scuol sot © Aconcagua Wikipedia
Intakte Stellen in der Textur. Scuol sot © Aita Flury
Die ganze Diskussion kann unter folgendem weblink angeschaut werden: https://www.youtube.com/watch?v=K1XVIVh254M&t=2s
Potenziale des Engadins
Die Teilnehmer*innenrunde der dritten Paneldiskussion vom 23. Oktober bestand aus den Architekt*innen Elli Mosayebi (Zürich), Max Dudler (Zürich/Berlin), der Geschäftsführerin des Bündner Heimatschutzes Ludmila Seifert (Chur) und dem RZU-Direktor und Moderator Angelus Eisinger (Zürich) und stand unter dem Titel ‚Potentiale des Engadins’.
Max Dudler, der seit 40 Jahren partiell in Ftan wohnt, stellte fest, dass der Mensch der Zukunft leben kann wo er will, dass dieses Nomadentum aber gleichzeitig mit einem Identitätsverlust des Menschen selber als auch der gebauten Umwelt einhergeht. Ihn interessiere deshalb die Frage, wie Strukturen der Zukunft aussehen können, die in Bezug auf den Schutz der Landschaft Qualität zeigen. Er plädiere deshalb für dichteres Bauen, so dicht, wie das bereits früher der Fall war.
Elli Mosayebi reflektierte darüber, ob neue Wohnformen wie überregionale Genossenschaftsmodelle, auch für das Engadin ein mögliches Modell sein könnten, um dem Druck auf Grund und Boden zu begegnen. Die Erfahrungen in der Stadt hätten gezeigt, dass auch private Investoren durch Genossenschaftsmodelle unter Druck geraten. Teilhabe, Mitverantwortlichkeit und Empathie seien die Schlüsselbegriffe für neue räumliche Formen des Miteinanders. Möglich würden diese aber natürlich nur auf der Grundlage von veränderten politischen Prämissen.
Ludmila Seifert plädierte dafür die Differenzen - und damit das Authentische - zu stärken. Das frühere Bild der intakten Landschaft mit präzise eingebetteten Siedlungen sei zerstört. Übrig geblieben sei atmosphärische Dichte nurmehr in den Dorfkernen, der Rest darum herum mehr oder weniger ‚zugemüllt’. Insofern gelte es vor allem diese starken Strukturen zu erhalten, insbesondere und gerade auch in ihren Konstruktionsweisen, Materialien und Details. Besonders tragisch am Ganzen sei die Erkenntnis, dass oft nicht Mal innerhalb von Familienbesitz das Verständnis für baukulturelle Qualitäten weiterlebe.
Angelus Eisinger betonte, dass ein neues empathisches Miteinander von Einheimischen und ‚Zweitheimischen’ viel Kraft berge: Die Klärung der Potentiale für die Zukunft der Gegend könnte mittels kollektivem brainstorming - in partizipativen workshops – vorangetrieben werden.
Materielle Identität © Aita Flury
Identitätsrelevante Elemente © ‚Wohnen in alten Engadiner Häusern’, Tino Walz/Werner Kessler Architekten München, Selbstverlag 1975
Die ganze Diskussion kann unter folgendem weblink angeschaut werden: https://www.youtube.com/watch?v=vzDK7BuqkpA&t=1s
Aita Flury
Aita Flury *1969 in Chur, studierte Architektur an der ETH Zürich. Seit 2005 betreibt sie ein eigenes Architekturbüro in Zürich. Neben der praktischen Arbeit war sie in der Lehre tätig (ETHZ/HTW Chur/KIT Karlsruhe), hat die Ausstellung Dialog der Konstrukteure kuratiert und publiziert zu architektonischen Themen. Seit 2021 hat sie ein Mandat für die fachliche Leitung bei der Stiftung Baukultur Schweiz.