Landschaftsszene mit 'Open Call' Projekten von Malgorzata Maria Olchowska in Zusammenarbeit mit York Bing Oh. Detail der Panoramainstallation in der Wanderausstellung ‚Open Call: 20 years of Public Architecture‘, gezeigt im Vandenhove Center for Architecture and Arts, Ghent, 2019 © Michiel de Cleene
10. November 2021
Marcel Smets | Feuilleton
Der Beitrag eines Baumeisters zur Baukultur - Eine retrospektive Betrachtung
Baukultur drückt ein bestimmtes Merkmal einer bestimmten Gesellschaft aus. Baukultur ist weniger kurzfristigen Veränderungen unterworfen, vielmehr kann sie sich über längere Zeiträume entwickeln. Die ihr zugrundeliegenden Treiber sind vielfach. Faktoren wie z.B. der kulturelle Ehrgeiz führender politischer Kräfte, die Art der Beauftragungs-Verfahren, die Qualität der Hochschulausbildungen oder auch die Verfügbarkeit und das Leistungsvermögen von Bauhandwerkern spielen dafür eine zentrale Rolle. Der folgende Beitrag skizziert den Zusammenhang zwischen dem ‚Vlaams Bouwmeester’ (Flämischer Baumeister) und der lokalen Baukultur innerhalb eines Zeitraums von rund 50 Jahren.
Die Abwesenheit der belgischen Baukultur
Bis Ende der 70er-Jahre fristete die Baukultur in Belgien ein Mauerblümchendasein, da der politische Ehrgeiz fast aussschliesslich auf den wirtschaftlichen Aufschwung und die ‚Modernisierung’ der Städte und der Infrastruktur ausgerichtet war. Architektonische Qualität spielte bei der Vergabe von Bauaufträgen keine Rolle, diese wurden fast immer an Gleichgesinnte und politische Freunde vergeben. Zudem blieb die Architekturausbildung stark von einem überholten konstruktiven Rationalismus geprägt - der mediokre Zustand wurde einzig in einer handwerklichen Qualität überwunden.
Anzeichen einer zunehmenden Reaktion
In den 70er-Jahren machte sich die Kritik an der vorherrschenden Mittelmässigkeit bemerkbar, zunächst in Büchern, Zeitschriften, kulturellen Protesten - später in gelegentlichen ikonischen architektonischen und städtebaulichen Interventionen. In den 80er- Jahren nahm die Erneuerung der Architektur und der Bautradition viele Formen an: Aufgrund der Wirtschaftskrise hielt sie sich weitgehend in Theorie und Zeichnung auf. Die ‚ikonischen’ Bauten, die realisiert wurden, blieben oft in einer nostalgischen Vergangenheit verhangen, die utopischen Projekte brachen heftig mit ihr. In den 90er-Jahren verbreiteten sich Kritik und Autorenschaft, die zuvor nur wenigen führenden Persönlichkeiten vorbehalten waren, in dem Masse, in welchem sich (niederländische) Zeitschriften einem belgischen Publikum öffneten und Flandern begann, alle zwei Jahre ein eigenes ‚Jahrbuch’ herauszugeben.
Bucheinbände Jahrbücher ‚Architectuur Vlaanderen’ © Ministerie van den Vlaamse Gemeenschap
Drei wichtige internationale Städtebauwettbewerbe (Zeebrugge 1990, Antwerpen City & River 1992, Hoog-Kortrijk 1991) brachten nicht nur ausländische Meisterentwürfe hervor, sondern bauten auch die Angst ab, dass öffentliche Auftraggeber nicht in der Lage sein würden, bedeutende Aufträge zu vergeben. Sie wurden zum Beweis dafür, dass wichtige Gebäude auch architektonischen Ansprüchen genügen.
Die Ursprünge und würdige Erstbesetzung des flämischen Staatsarchitekten
Die damalige flämische Finanzministerin Wivina De Meester schlug 1999 vor, ein flämisches Gegenstück zum seit langem existierenden niederländischen ‚Rijksbouwmeester’ zu schaffen. Diese innovative Entscheidung diente der Konsolidierung des bedeutenden kulturellen Wandels, durch den der Architektur Bedeutung zugeschrieben worden war. Der flämische Staatsarchitekt sollte gewährleisten, dass die öffentliche Hand dem Beispiel aufgeklärter privater Bauherren folgte und für die zahlreichen öffentlichen Bauaufgaben fähige Architekt*innen beauftragte.
Die Glaubwürdigkeit und moralische Autorität des neuen Amtes des Staatsarchitekten wurde vor allem durch die Ernennung von Bob Van Reeth, einem der angesehensten Architekten Flanderns, erreicht. Er betrachtete sich selbst als ‚notwendiges Ärgernis’, das von den politischen Entscheidungsträgern grundsätzlich respektiert wurde und in der Lage war, die überkommenen Bautraditionen der flämischen und lokalen Verwaltungen zu biegen. Unter dem Motto ‚Ein Baumeister baut nicht’ erfand er das Verfahren der ‚offenen Ausschreibung’ für Kandidaten und den zweistufigen Wettbewerb zur Auswahl des geeignetsten unter ihnen.
Bob Van Reeth förderte den ‚Open Call’, indem er seine Wertschätzung für seine öffentlichen Auftraggeber durch die Veröffentlichung umfangreicher Briefings zum Entwurfsauftrag offenkundig zum Ausdruck brachte. Diese Strategie, gekoppelt mit seinem persönlichen Engagement - sei es bei Baustellenbesichtigungen, Kundenanhörungen oder Jurierungen -, führte in der Folge dazu, dass zahlreiche öffentliche Aufträge im Rahmen von ‚Open Call’ Verfahren vergeben wurde. Zum Erfolg trugen sicherlich auch einige aus diesen Verfahren hervorgehende, hochstehende Projekte von aufstrebenden Architekten bei.
Konzerthalle in Brügge, Robbrecht & Daem Architekten 2002 © Marc Ryckaert
Ursulinen Schule in Mechelen, Belgien, Label Architecture 2019 © Stijn Bollaert
Die Vertiefung des Konzepts
Während meiner eigenen Amtszeit als ‚Vlaams Bouwmeester’ erweiterte und vertiefte ich das Konzept meines Vorgängers: So wurde z.B. ein talentiertes Mitarbeiterteam aufgebaut und der ‚Open Call’ wurde auch auf andere Disziplinen (Landschaftsarchitektur, Ingenieurwesen) ausgeweitet. Die Argumente, die zur Auswahl der 10 teilnehmenden Kandidaten geführt hatten, wurden stets transparent kommuniziert. Es wurde zudem Wert gelegt auf klare, von allen Parteien konsolidierte Projektdefinitionen (z.T. Vorstudien) im Vorfeld des ‚Open Call’ Verfahrens. Potenzielle öffentliche Auftraggeber wurden in ihrem Wissen unterstützt, wie Aufgaben angegangen werden könnten. Last but not least wurde der zuständige Minister bei der Entwicklung von Kampagnen zur Verbesserung der Bauqualität in Bereichen mit hoher gesellschaftlicher Relevanz (Schulen, Spitäler, Infrastruktur) beraten. Die zahlreichen Ergebnisse der öffentlichen Bauaufträge, die in dieser ‚heroischen’ Periode entstanden, sind seitdem weitgehend anerkannt. Sie haben mit dazu beigetragen, dass die belgische Architektur international immer mehr Wertschätzung erfährt.
Dossiers ‚Vlaams Bouwmeester’ © Marcel Smets
Bucheinband ‚Celebrating Public Architecture. Buildings from the Open Call in Flanders 2000-21’, Jovis Verlag 2019 © Jovis Verlag
Anzeichen einer nachlassenden Wirkung
In jüngster Zeit deuten viele Anzeichen auf einen schwindenden Einfluss des flämischen Staatsarchitekten auf die Architekturpolitik und die Entscheidungsfindung bei wichtigen Bauaufträgen hin. Offensichtlich setzten Staatsarchitekten wie Peter Swinnen und Leo Van Broeck andere Prioritäten als den Open Call. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass heute der Einfluss des flämischen Staatsarchitekten auf die Baukultur unter grossem Druck steht.
Marcel Smets
Marcel SMETS *1947 in Mechelen, ist emeritierter Professor für Städtebau an der Universität Leuven. Smets war Gründungsmitglied des ILAUD (Urbino, 1978), Gastprofessor an der Universität von Thessaloniki (1987) und Designkritiker an der Harvard University GSD (2002, 2003, 2004). Er war Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses von EUROPAN (1995-2004) und Vorsitzender des CSO des Institut pour la Ville en Mouvement (2007-2015). Zwischen 2005-2010 war er flämischer Staatsarchitekt. https://vlaamsbouwmeester.be