2011 vereinigten sich die Dörfer Bilten, Filzbach, Mollis, Mühlehorn, Näfels, Niederurnen, Oberurnen und Obstalden zur Einheitsgemeinde Glarus Nord © Gemeinde Glarus Nord
15. Februar 2022
Aita Flury, Rita Illien, Vittorio Magnago Lampugnani, Peter Märkli, Jonathan Sergison | Baukultur persönlich
Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil II - Lernen von Glarus Nord
Das Gespräch mit Peter Märkli (PM), Rita Illien (RI), Vittorio Magnago Lampugnani (VML) und Jonathan Sergison (JS) unter der Leitung von Aita Flury (AF) fand am 26. August 2021 in Zürich statt. Sie alle haben sich in der einen oder anderen Form an übergeordneten Planungen in der Schweiz beteiligt, sei es in der Stadt, in Suburbia oder im ländlichen Gebiet. Das Gespräch erschien im Du-Heft 910 vom Dezember 2021/Januar 2022.
AF: Von euch Peter Märkli und Rita Illien interessieren mich eure Erfahrungen bei der Planung von Glarus Nord. Glarus Nord entstand 2011 aus acht zuvor unabhängigen Gemeinden mit eigenen Baureglementen, die durch ein neues Reglement ersetzt werden sollten. Dafür habt ihr eine räumliche Vision für das neue Gemeindegebiet entwickelt, aus welcher nachher der Entwurf einer neuen Bau- und Zonenordnung resultierte. Dieser Vorschlag wurde im September 2017 an einer ausserordentlichen Gemeindeversammlung mit einer Dreiviertelmehrheit abgelehnt.
RI: Der von uns entworfene Richtplan ist angenommen worden. Er beinhaltet wichtige Festlegungen wie z.B. der Erhalt der Linthebene als Grünraum, als Agrikulturlandschaft, die nicht überbaut werden soll. Erst der Nutzungsplan, wo es um die Festlegung des parzellenscharfen Zonenplans sowie um die Revision des Baugesetzes ging, wurde abgelehnt.
Die Entwurfsskizze zum Richtplan Glarus Nord basierte wesentlich auf der Analyse der landschaftlichen Begebenheiten © Rita Illien
Auf dem Weg von Näfels nach Oberurnen mit Blick Richtung Ziegelbrücke © Rita Illien
PM: Der politische Fehler war, die neuen Bauregeln und den neuen Zonenplan, in dem es um die aktuelle Frage ging, Bauland auszuzonen, zusammen in einem Abstimmungspaket an einer ausserordentlichen Gemeindeversammlung vorzulegen. Positiv zu betonen ist aber, dass ein Drittel der Abstimmenden trotz heftiger Manipulationsversuche für die Vorlage gestimmt hat. Ein Drittel ist nicht wenig. Und wie Rita schon gesagt hat, gab es den Gemeindepräsidenten sowie eine Gruppe von Mitgliedern aus diesen Dörfern, die offen waren für unsere Vorschläge.
VML: Was würdet ihr mit eurer Erfahrung nun anders machen, um den Plan ein nächstes Mal durchzubringen? Seht ihr Möglichkeiten oder ist das hoffnungslos?
PM: Ich bin diesbezüglich nicht hoffnungslos, aber gleichzeitig auch davon überzeugt, dass solche Fragen einer gewissen Zeitdauer bedürfen. Es geht darum, sie immer wieder zu stellen, immer mehr Leute für die Sache zu gewinnen, sehr gut zu kommunizieren und auf keinen Fall Feindbilder aufzubauen. Von grossem Vorteil wäre die Rückendeckung einer Institution wie der ETH, sodass der Fokus von den als Privatpersonen beteiligten Planerinnen und Planern weggerückt werden würde. Die ETH müsste sich viel aktiver involvieren, ja von ihr müsste der Aufruf an die Gemeinden und Kantone kommen, dass schweizweit die fragwürdigen Baugesetze und -regeln neu gedacht werden müssen. Einerseits aufgrund veränderter Notwendigkeiten, andererseits auch weil es keine sinnfällige Erklärung gibt, woher diese Reglemente überhaupt kommen. Denn innerhalb dieser war es möglich, die Umwelt so zu bauen, wie sie sich uns heute präsentiert. Zwischen Denkmalpflege und Reglement herrscht zudem ein paradoxes Verhältnis: Obwohl das Reglement der von ihr protegierten Baukultur entgegenwirkt, greift die Denkmalpflege dieses nicht an.
AF: Dass die Denkmalpflege nur protektiv im Bereich bestehender Substanz agiert und das Neue den Reglementen überlässt, hat damit zu tun, dass sie nicht befähigt ist konkrete Vorschläge dafür zu entwickeln.
VML: Es ist schlicht nicht ihre Aufgabe, nicht ihre Zuständigkeit. Für die Überwachung der Qualität des Neuen gibt es andere Institutionen, etwa die Baukollegien.
Auszüge Baureglement Gemeinde Glarus Nord © Baureglement Glarus Nord 2017, S. 13-14
Schemas zu Artikel 21ff, 24, 25, 26 © Baureglement Glarus Nord 2017, S.26/S.27/S.28/S.29/S.30/S.31
PM: Tatsache bleibt, dass es einen längeren Zeitraum braucht, um das Bewusstsein für solche Themen zu ändern. Insofern wäre es schön, wenn in Bezug auf Raumfragen jemand mit Finanzkraft eine intelligente Gruppe von Leuten unterstützen würde, damit diese sich in Form von Artikeln/Glossen in den Tageszeitungen kontinuierlich zum Thema äussern würde. Wichtig wäre zudem der Einbezug von Rechtsanwälten. Es bräuchte eine gut aufgestellte operative Gruppe, die sich der Sache professionell annimmt, sie zu ihrem Hauptthema erklärt, guerillamässig und in aller Klarheit Hauptpunkte formuliert und diese in die Gesellschaft trägt.
AF: Die Stiftung Baukultur Schweiz könnte hier einen Ausgangspunkt bilden.
PM: Das würde ich super finden.
AF: Zusammenfassend kann man also sagen, dass es Zeit und Beharrlichkeit braucht, vor allem aber auch eine Stützung, bzw. das aktive Vorantreiben dieser Themen durch eine Institution, die das Ganze aus dem Privatbereich herauslöst und zu einer öffentlichen Sache macht.
PM: Genau. Das Know-How, das baukulturelle Kapital dazu, ist in der Schweiz vorhanden.
Durch Gebäude gebildeter Strassenraum im alten Dorfkern von Mollis © Rita Illien
Gestaltloser ‚Strassenraum’ in einem Neubaugebiet von Näfels © Rita Illien
Aita Flury, Rita Illien, Vittorio Magnago Lampugnani, Peter Märkli, Jonathan Sergison
Aita Flury *1969 in Chur, studierte Architektur an der ETH Zürich. Seit 2005 betreibt sie ein eigenes Architekturbüro in Zürich. Neben der praktischen Arbeit war sie in der Lehre tätig (ETHZ/HTW Chur/KIT Karlsruhe), hat die Ausstellung Dialog der Konstrukteure kuratiert und publiziert zu architektonischen Themen. Seit 2021 hat sie ein Mandat für die fachliche Leitung bei der Stiftung Baukultur Schweiz.
Rita Illien *1965 in Vals, studierte in Rapperswil Landschaftsarchitektur. Seit 2008 führt sie mit Klaus Müller das Büro Müller Illien Landschaftsarchitekten. Neben der Projektarbeit engagiert sie sich in verschiedenen Kommissionen, ist als Wettbewerbsjurorin tätig, begleitet Planungsverfahren als Fachspezialistin und ist Gastkritikerin an Hochschulen.
Vittorio Magnago Lampugnani *1951 in Rom, ist Architekt und war bis vor kurzem Professor an der ETH; heute lehrt er am GSD in Harvard. Er führt ein Büro in Mailand und gemeinsam mit seinem Partner Jens Bohm eines in Zürich, Baukontor Architekten. Er zeichnete für den Novartis Campus in Basel sowie für das Richti Quartier in Wallisellen verantwortlich.
Peter Märkli *1953 in Zürich, studierte Architektur an der ETH Zürich und war mit dem Architekten Rudolf Olgiati und dem Bildhauer Hans Josephsohn bekannt. Seit 1978 betreibt er ein eigenes Atelier und war von 2002 bis 2015 Professor an der ETH Zürich. Er lebt und arbeitet als Architekt in Zürich.
Jonathan Sergison *1964 in St. Asaph, studierte Architektur an der Architectural Association London und gründete 1996 zusammen mit Stephen Bates das Architekturbüro Sergison Bates in London. Im Jahr 2010 eröffnete das Büro ein zweites Studio in Zürich. Seit 2008 ist Jonathan Sergison Professor für Entwurf und Konstruktion an der Accademia di Architettura in Mendrisio, wo er auch Direktor des Instituts für Städtebau und Landschaftsstudien ist.