Fassaden zweier an der Heren-Gracht in Amsterdam liegender Häuserreihen im 18.Jh. Die Privatleute mussten beim Hausbau detaillierte Bauvorschriften beachten, in denen die Merkmale der Bauten und die den Hausbesitzern obliegenden Pflichten genauestens festgelegt waren © Leonardo Benevolo, die Geschichte der Stadt, Campus Verlag Frankfurt/Main
8. März 2022
Aita Flury, Rita Illien, Vittorio Magnago Lampugnani, Peter Märkli, Jonathan Sergison | Baukultur persönlich
Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil V - Regulierungen
Das Gespräch mit Peter Märkli (PM), Rita Illien (RI), Vittorio Magnago Lampugnani (VML) und Jonathan Sergison (JS) unter der Leitung von Aita Flury (AF) fand am 26. August 2021 in Zürich statt. Sie alle haben sich in der einen oder anderen Form an übergeordneten Planungen in der Schweiz beteiligt, sei es in der Stadt, in Suburbia oder im ländlichen Gebiet. Das Gespräch erschien im Du-Heft 910 vom Dezember 2021/Januar 2022.
AF: Es scheint, als ob der Fokus heutiger, übergeordneter Planungsbemühungen primär auf der Regelung des Aussenraums, auf der Definition von Leerraum und Masse, auf der Bestimmung von öffentlicher und privater Sphäre liegt. Sowohl Materialwahl als auch die Gestaltung der Fassaden wird dem Privaten zugeschrieben und nicht als geregeltes, öffentliches Gut geschützt. Persönlich empfinde ich das Entlassen der Fassaden in den Privatbereich als grosses Defizit und mich interessiert, ob ihr dies als nicht abwendbaren, gesellschaftlichen Kompromiss einfach hinnehmt oder welche Möglichkeiten ihr seht, wie hier neue Wege zu beschreiten wären?
VML: Beim Richti-Quartier haben wir bis zu einem gewissen Masse versucht, die Fassaden zu regulieren. Wir haben mit den Kollegen, die mit uns dort gebaut haben, workshops gemacht und Vorschläge zu Materialien, Farben, Fensterformaten und vielem mehr entwickelt. Ich denke, wir haben uns da schon einer gemeinsam getragenen Konvention (mit der Ausnahme von einem Architekten, der nicht mitgespielt hat) angenähert. Wir konnten und wollten aber auch nicht einfach Vorgaben diktieren. Die Frage, wie weit man da gehen soll, muss, kann, ist sicherlich hochaktuell.
Versuch der Entwicklung einer Fassadenkonvention im Richti-Quartier, Wallisellen © Goran Potkonjak
Regulierung des Materials. Werkbundstadt aus Backstein, Berlin Charlottenburg 2016 © Werkbundstadt Berlin
RI: Ich teile die Meinung, dass das, was vom öffentlichen Strassenraum aus wahrnehmbar ist, Teil des öffentlichen Gutes ist, seien es nun Fassaden oder Aussenräume vor dem Haus.
VML: Wie der Architekturtheoretiker Marc-Antoine Laugier schon im 18. Jahrhundert sagte, dürfen die Fassaden nicht den Launen des Einzelnen überlassen werden. Vielleicht führt der Weg dazu wirklich über eine Strategie, wie Jonathan sie nun eingeschlagen hat: Indem das ‚Decorum’ von Zürich analysiert und dokumentiert wird, können Grundregeln herausgeschält werden, deren Einhaltung durchaus Raum lässt für die individuelle Entfaltung des Einzelnen.
JS: Mir ist dieses Thema sehr wichtig, da es aus meiner Sicht ein Fundament unserer Verantwortung als städtische Denker darstellt. Ich muss nochmals auf London verweisen: Die einzige Periode, die auf ein gesamtstädtisches Konzept setzte, war die Georgianische. Da gab es eine Akzeptanz, dass eine Stadt aus Strassen und Plätzen und manchmal crescents (halbmondförmige, zurückschwingende Häuserreihen) gebildet wird. Diese Akzeptanz machte es möglich die ganze Stadt aus nur vier Haustypen zu bilden. Heute ist davon nur mehr ein Fragment übrig, trotzdem ist diese inhärente Kohärenz noch stark spürbar. Die Fassaden der georgianischen Reihenhäuser wurden mittels eines Buchs diktiert, an das sich Architekten als auch Bauherren halten mussten. Wenn ich sehe, was heute gebaut werden kann, liegt der Schluss nahe, dass das frühere System besser war. Die Frage stellt sich aber natürlich, wie weit man gehen muss, um zu garantieren, dass die Fassaden Qualitäten haben. Innerhalb unserer zeitgenössischen Bedingungen ist die Bandbreite zwischen wirklich strikten „codes“ und der Gefahr, dass die Stadt aus einem Zoo von lauter komisch geformten Tieren besteht, sehr gross. Aus meiner Sicht könnte eine sinnvolle Regulierung z.B. in der Limitierung der Materialpalette bestehen, aus welcher gebaut werden darf. Der Knackpunkt dabei sind natürlich die wirtschaftlichen Interessen.
Extrem kohärente Speicherstadt Hamburg © Aita Flury
Extrem kohärentes Stadtbild von Siena © Toskanatour
VML: Nehmen wir das Beispiel Siena, das extrem kohärent ist, weil es komplett aus Backsteinen besteht. Der Grund dafür liegt darin, dass der Lehm in der Gegend reichlich vorkommt. Siena ist aus pragmatischen, auch ökonomischen Gründen aus Backsteinen gebaut, nicht aus einer ästhetischen Vorliebe heraus. Die heutige Welt funktioniert aber anders - theoretisch sind alle Materialien verfügbar. Deshalb ist es schwierig, ‚codes’ festzulegen, die nicht willkürlich sind.
JS: Man muss das heute in Beziehung zum Thema Nachhaltigkeit setzen. Wir müssen uns doch fragen, woher denn das Material kommt, aus welchem wir unsere Häuser bauen. Das scheint mir eine Möglichkeit für eine logische Materiallimitierung. Der Nachhaltigkeitsfokus kann doch das Thema Materialwahl unterstützen.
PM: Ich möchte das Thema von einer anderen Seite betrachten. Unser Beruf hat einen grossen Kulturverlust erlitten. Dieser Kulturverlust resultierte aus gewissen Erfindungen des letzten Jahrhunderts, welche die Sinne und die Reize der Menschen stärker angesprochen haben als die alte Baukultur. Lange Zeit wurden Lebensgefühle über Baukultur geäussert. Der diesbezüglich grösste kulturelle Schatz der Schweiz ist in meinen Augen das Bauernhaus mit seinen Wirtschaftsgebäuden, nicht etwa das Bürgerhaus. Die sogenannten Bürger übernahmen die Stile. Die Schweizer Bauernhäuser aber sind in allen Regionen Originale, reich und in ihrem Geiste grossartig. Dieser fundamentale Verlust muss thematisiert werden und deshalb kann man die Fragen diesbezüglich nur abwägen. Ich, mit meinem Naturell, plädiere für Ingenieurpläne, also für grossmassstäbliche Pläne, die den Freiraum und den Strassenraum bestimmen, die eine Struktur setzen. Zur Illustration möchte ich auf die Unterschiede von Masterplänen hinweisen. Bei heutigen Masterplänen in Zürich ist bereits jede Ecke definiert. Beim damaligen Masterplan für New York hingegen wurden nur die Strassenzüge sowie ein grosser Freiraum definiert. In New York hat nachher jede Generation die Chance bekommen auf diese Struktur ihre Bauten zu setzen. Das ist meine Vorstellung von Stadtplanung: Die Stadt ist nurmehr über ein paar Linien definiert, die aber mit räumlichen Vorstellungen hinterlegt sind. Gedacht wird die Leere, und die Gebäude partizipieren nach gewissen Regeln an dieser Leere, formen die Räume, die antizipiert worden sind. Die einzelnen Häuser bleiben dabei aber austauschbar.
Der Oberingenieur von Graubünden Richard La Nicca baute nicht nur Strassen sondern entwarf ab 1845 auch den Wiederaufbau der zerstörten Siedlung Thusis ab 1845. Inventarisationsplan Thusis-Neudorf © Andreas Hagmann, Architekt Chur
Der Oberingenieur von Graubünden Richard La Nicca baute nicht nur Strassen, sondern entwarf ab 1843 auch den Wiederaufbau der zerstörten Siedlung Felsberg. Inventarisationsplan Felsberg-Neudorf © Andreas Hagmann, Architekt Chur
AF: Euren Aussagen ist zu entnehmen, dass es bezüglich der Regulierung von Fassaden doch recht unterschiedliche Ansichten gibt, inwiefern - angesichts der übergeordneten räumlichen und gesellschaftlichen Fragen - diese überhaupt thematisiert werden kann oder soll.
Aita Flury, Rita Illien, Vittorio Magnago Lampugnani, Peter Märkli, Jonathan Sergison
Aita Flury *1969 in Chur, studierte Architektur an der ETH Zürich. Seit 2005 betreibt sie ein eigenes Architekturbüro in Zürich. Neben der praktischen Arbeit war sie in der Lehre tätig (ETHZ/HTW Chur/KIT Karlsruhe), hat die Ausstellung Dialog der Konstrukteure kuratiert und publiziert zu architektonischen Themen. Seit 2021 hat sie ein Mandat für die fachliche Leitung bei der Stiftung Baukultur Schweiz.
Rita Illien *1965 in Vals, studierte in Rapperswil Landschaftsarchitektur. Seit 2008 führt sie mit Klaus Müller das Büro Müller Illien Landschaftsarchitekten. Neben der Projektarbeit engagiert sie sich in verschiedenen Kommissionen, ist als Wettbewerbsjurorin tätig, begleitet Planungsverfahren als Fachspezialistin und ist Gastkritikerin an Hochschulen.
Vittorio Magnago Lampugnani *1951 in Rom, ist Architekt und war bis vor kurzem Professor an der ETH; heute lehrt er am GSD in Harvard. Er führt ein Büro in Mailand und gemeinsam mit seinem Partner Jens Bohm eines in Zürich, Baukontor Architekten. Er zeichnete für den Novartis Campus in Basel sowie für das Richti Quartier in Wallisellen verantwortlich.
Peter Märkli *1953 in Zürich, studierte Architektur an der ETH Zürich und war mit dem Architekten Rudolf Olgiati und dem Bildhauer Hans Josephsohn bekannt. Seit 1978 betreibt er ein eigenes Atelier und war von 2002 bis 2015 Professor an der ETH Zürich. Er lebt und arbeitet als Architekt in Zürich.
Jonathan Sergison *1964 in St. Asaph, studierte Architektur an der Architectural Association London und gründete 1996 zusammen mit Stephen Bates das Architekturbüro Sergison Bates in London. Im Jahr 2010 eröffnete das Büro ein zweites Studio in Zürich. Seit 2008 ist Jonathan Sergison Professor für Entwurf und Konstruktion an der Accademia di Architettura in Mendrisio, wo er auch Direktor des Instituts für Städtebau und Landschaftsstudien ist.