Die Veranschaulichung von Potenzialen © Semesterarbeit FS19, Carola Hartmann
10. Mai 2022
Luca Riggio | Baukultur persönlich
Potenziale veranschaulichen – Vom begreifbaren Entwurf zum Leitbildplan
Der Architekturentwurf als Instrument für die Schaffung von qualitativen statt quantitativen Zonenreglementen.
Vierundvierzig Studierende befassten sich über zwei Studienhalbjahre (Frühlingssemester 2019 und Herbstsemester 2020) mit der baulichen Entwicklung der Gemeinde Scuol. Initiiert wurden die Semester durch das Studio Boltshauser an der ETH Zürich. In Gruppenarbeiten wurden Grundlagen aufgearbeitet, bestehende Probleme und schlummernde Potenziale analysiert und diese mit Expert*innen und Gemeindeverantwortlichen diskutiert. Aufbauend auf den erarbeiteten Erkenntnissen und diversen Inputs vor Ort entwickelten die Studierenden konkrete Architekturentwürfe an entscheidenden Schlüsselstellen der Gemeinde Scuol. Diese führten teilweise ungeahnte Erkenntnisse zu Tage und erlaubten es mir im Zuge meiner Vertiefungsarbeit konkrete Vorschläge für die Siedlungsentwicklung und die zukünftigen Zonenreglemente der Gemeinde zu definieren. Die durch die Architekturentwürfe visualisierten Möglichkeiten, räumlichen Szenarien und ortspezifischen Visionen ermöglichten die Schaffung von qualitativen statt quantitativen Regularien.
So wie sich die Architekten Gion A. Caminada in Vrin, Luigi Snozzi in Monte Carasso und Peter Märkli in Glarus Nord spezifische Regeln für den ortstypischen Siedlungsbau entwickelten gilt es diese auch für die bauliche Entwicklung im Unterengadin zu finden. Diese zielen darauf ab die inneren Qualitäten zu bewahren und zu fördern und gleichzeitig einen attraktiven, belebten Lebensraum für die ständige Bewohnerschaft zu ermöglichen wie auch die einzigartige Landschaft als solche zu stärken.
Bauzonen Scuol mit Grünzone um den südlichen Dorfkern © Geoportal der kantonalen Verwaltung
Bei der Analyse einer Vielzahl von historischen Dorfkernen im Unterengadin fällt auf, dass diese meist mit einem ‚Grünring’ ummantelt sind. Diese Setzungen folgten aus denkmalpflegerischen Gründen der Idee die baukulturell bedeutenden Dorfkerne zu isolieren, sie von den Neubaugebieten loszulösen. Das Konzept der peripheren Neubauquartiere datiert aus einer Zeit, in welcher das Bewusstsein für die Endlichkeit der Ressource ‚Raum’ fehlte und in welcher auch die Problematik der Zersiedelung und deren klimatische Folgen nicht erkannt wurden. Angesichts der aktuellen Herausforderungen der Gegenwart eine längst überholte, wenig nachhaltige Strategie. Dazu kommt, dass diese Grünzonen in weiten Teilen wenig Aufenthaltsqualität besitzen: Die Flächen funktionieren teilweise als Kulturland, für das Leben im Dorf hingegen haben sie wenig Bedeutung und mögliche Potentiale liegen brach.
Auf der Basis der gesammelten Erkenntnisse und den in den Semestern erarbeiteten Entwürfe untersuchte ich ob und wie an die bestehende Dorfkernzone angebaut werden könnte. Es galt eine Lösung für die Herausforderung zu finden, dass sich die Dörfer flächenmässig zwar ausdehnen, jedoch die Einwohnerzahlen sinken. Die oben beschriebenen Grünzonen identifizierte ich dafür als zentrale Aktionsräume.
Vergleich der Volumina nach bestehendem Zonenreglement © Luca Riggio
Mögliche Siedlungsstrukturen nach bestehendem Zonenreglement © Luca Riggio
Ein Blick auf die bestehenden Zonenvorschriften verrät, dass die aktuell bestehenden Regularien keine Siedlungsmuster ermöglichen, welche die charakteristischen und räumlichen Qualitäten der traditionellen engadiner Dörfer bewahren oder fortführen. Diese Problematik wird besonders im östlichen Übergang zwischen der historischen Dorfkernzone und der W2 Zone ersichtlich.
Dichteabfall beim Übergang der Dorfzone zur Zone W2 © Geoportal der kantonalen Verwaltung
Auf eindrückliche Weise zeigt dies auch die hypothetische Anwendung der Grenzabstände der W2-Zone auf die Parzellen des historischen Dorfkerns Scuol Sot.
Vergleich der Dorfzone mit angewandten Grenzabständen der W2-Zone © Carola Hartmann
Der neue Vorschlag fokussiert deshalb auf der Implementierung einer neuen Zwischenzone als vermittelnde Übergangszone. In dieser Transitionszone soll der aktuelle Bruch in der Siedlungsstruktur repariert und das Potenzial zentraler Räume mit einer hohen Bebauungsdichte ausgeschöpft werden. Ihr Reglement soll dabei auf die ortsspezifischen Gegebenheiten und Bedürfnisse eingehen.
Bei der weiteren Entwicklung der Transitionszone kristallisierten sich zwei markante Siedlungsmuster heraus: Das Fortführen der Platzfolgen und das Komplettieren der Ringstrukturen. Diese wurden in der Vertiefungsarbeit eingehend untersucht. Illustriert wurden diese Strategien in den Semesterarbeiten von Carola Hartmann (FS19), Jan-Philipp Klau (HS20) und in meiner eigenen Arbeit (HS20).
Semesterprojekt mit Anwendung der Vorschriften der Transitionszone © Luca Riggio
Semesterprojekt mit Anwendung der Vorschriften der Transitionszone © Carola Hartmann
In der Folge habe ich für die Transitionszone von Scuol konkrete Leitsätze formuliert:
Reglemente Transitionszone © Luca Riggio
Die Verbindung der Dorfteile, die Schaffung neuer Zentralität und die Ausbalancierung der Nutzungen zwischen dem Stradun (Hauptstrasse) und dem alten Dorfkern Scuol Sot soll die Attraktivität für ständige Bewohner*innen und attraktive Arbeitgeber*innen erhöhen. Insbesondere fördern die gewählten Massnahmen und Strategien die Verdichtung nach innen und wirken so entschieden der Zersiedelung entgegen. Die Planung neuer Quartiere in bestehenden Strukturen und die neu realisierbare Dichte leisten - neben den genannten Massnahmen - einen bedeutenden Beitrag für die klimaschonende Entwicklung der Gemeinde. Bei der Erarbeitung meiner Vertiefungsarbeit stand ich in regem Austausch mit der Baukommission von Scuol.
Leitbildplan mit Transitionszone © Luca Riggio
Das beschriebene Vorgehen ist nicht ausschliesslich auf die unterengadiner Gemeinde Scuol zugeschnitten, sondern lässt sich auf jeden Ort in sämtlichen Regionen übersetzen. Es handelt sich um die Methodik über architektonische Konzepte räumliche Potenziale aufzuzeigen. Während des Semesters werden hierbei weitere Akteure wie Politiker*innen, Kommissionen, Expert*innen und Einwohner*innen beigezogen und in den Prozess involviert. Die integrale, vertiefte Auseinandersetzung mit dem Ort und die Ausformulierung eines konkreten räumlichen Entwurfs durch die Studierenden bringt eine Vielzahl von Möglichkeiten hervor, die untereinander vergleichbar werden. In Form von Modellen, Visualisierungen und Plänen lassen sich städtebauliche, räumliche Setzungen und Themen niederschwellig vermitteln: Potenziale und Konsequenzen werden damit auch für die Laien verständlich.
Dieses visuelle Aufzeigen von Möglichkeiten erlaubt den Gemeinden, Behörden und Fachverständigen ihre kommunalen Entwicklungsstrategien auf der Basis von räumlichen Szenarien heraus zu entwickeln. Es bietet den Nährboden für spezifische Diskussionen und eine fundierte Auseinandersetzung mit der Vision eines Ortes. Die Transformation von den heutigen quantitativen Baugesestzen hin zu qualitativen Regelwerken wird so realisierbar.
Der Aufwand für die Gemeinden und Behörden bleibt derselbe wie bislang, auch die Arbeit der Raumplanungsbüros wird keineswegs obsolet. Die Involvierung der Hochschulen schafft vielmehr eine weitere, fundierte Ebene der Auseinandersetzung mit dem Ort: Ein solch vermittelnder, niederschwelliger Variantenreichtum ist unter marktwirtschaftlichen Bedingungen für eine Gemeinde gar nicht stemmbar. Gleichzeitig kommen die Hochschulen ihrem Forschungs- und Lehrauftrag absolut sinnhaft nach: die Studierenden können ihre Fertigkeiten anhand von realen Fragestellungen üben und erhalten gleichzeitig mit ihren Arbeiten eine Stimme. Die angewandte Entwurfs-Methode generiert insofern einen Mehrwert für sämtliche Involvierte und ist ein essentieller Beitrag für den Erhalt und die Entwicklung von identitätsstiftenden und zukunftsfähigen Räumen.
Luca Riggio
Luca Riggio *1990 in Basel, studierte nach seiner Lehre als Hochbauzeichner Architektur an der FHNW Muttenz und der ETH Zürich. Im Zuge einer Vertiefungsarbeit bei der Gastdozentur von Roger Boltshauser setzte er sich intensiv mit dem Zonenreglement und möglichen Entwicklungsstrategien der Gemeinde Scuol auseinander. Zeitgleich gewann er noch während seines Studiums gemeinsam mit Kaspar Brütsch und Luca Ugolini den offenen Wettbewerb für den Ersatzneubau des Bezirksgerichts Hinwil und gründete daraufhin das Architekturbüro KOYA Architektur www.koyaa.ch in Zürich und Basel.