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Raumplanung neu denken

achtung: die Schriften © Triest Verlag

6. Dezember 2021
Ludmila Seifert | Baukultur persönlich

Raumplanung neu denken

Über das Unbehagen in der Siedlungsentwicklung

Im Rahmen der Vernehmlassung zum Churer Stadtentwicklungskonzept 2050, das die raumplanerischen Leitplanken für die Entwicklung der Bündner Hauptstadt abstecken soll, hatten wir Anlass, uns vertiefter mit der Art und Weise städtebaulicher Planungen auseinanderzusetzen. Quasi zur Einstimmung las ich die Schrift achtung: die schweiz. Erschienen im Januar 1955, vor nicht weniger als 66 Jahren also, verfasst vom Soziologen Lucius Burckhardt, dem Historiker (und späterem Werber) Markus Kutter – und Max Frisch, der damals gerade seinen Beruf als Architekt aufgab, um sich ganz der Tätigkeit als Schriftsteller zu widmen. Das gescheite Pamphlet von 56 Seiten gehört zur provokanten Trilogie der «Basler Politischen Schriften», mit der das prominente Autorenteam in der euphorischen Nachkriegszeit eine engagierte Debatte um die Perspektiven in Stadt- und Raumplanung initiierte. Ziel der Autoren war es, der damals einsetzenden Zersiedlung von Stadt- und Landschaftsräumen entgegenzuwirken.

Raumplanung neu denken

Bauten ohne erkennbares gestalterisches Konzept © Ludmila Seifert

Raumplanung neu denken

Zeugnisse einer baulichen Unkultur © Ludmila Seifert

Die Broschüre ist ein wertvolles Zeitdokument – und eine aktuelle Lektüre zugleich. Wie vertraut ist mir heutigen Leserin die Analyse des status quo: «Die Resignation gilt als demokratische Weisheit. Und also wuchern unsere Städte, wie's halt kommt, geschwürartig, dabei sehr hygienisch; man fährt eine halbe Stunde lang mit einem blanken Trolleybus und sieht das Erstaunliche, dass die Vergrösserung unserer Städte zwar unaufhaltsam stattfindet, aber keineswegs zum Ausdruck kommt. Es geht einfach weiter, Serie um Serie, wie die Vergrösserung einer Kaninchenfarm. Fährt man weiter, zeigt sich, dass das schweizerische Mittelland aufgehört hat, eine Landschaft zu sein; es ist nicht Stadt, auch nicht Dorf. Es ist ein Jammer und das Werk unserer Generation, der, schlimmer als den Grossvätern, die industrielle Entwicklung über den Kopf gewachsen ist.»

Raumplanung neu denken

Gewerbezone von einer unbeschreiblichen architektonischen Banalität © Ludmila Seifert

Raumplanung neu denken

Exponierte Hanglagen arbiträr überbaut © Ludmila Seifert

Wie, frage ich mich, hätten Frisch und die seinen wohl die heutige Situation beurteilt? Vertraut ist mir auch deren Erstaunen darüber, dass man die Planung schicksalsergeben den Liegenschaftsspekulanten und Beamten der Bauverwaltung überlässt; die Verwunderung darob, dass die räumliche Entwicklung so stark von Kapitalinteressen und nicht von den Bedürfnissen der Gesellschaft und qualitativen Zielsetzungen gelenkt wird: «Wenn sie [die Spekulation] allein die Stadt baut, nicht unter einen grösseren Willen genommen wird, nicht dient, sondern herrscht, so sind unsere Städte eben nichts mehr als Ausdruck dieser Spekulation. Und da könnten unsere Hochschulen noch viel bessere Vorlesungen über Städtebau haben, es wäre für die Katze. Und unsere Stadtbaumeister könnten bersten vor Mut und Lebendigkeit und Schöpferkraft: es wäre für die gleiche Katze. Es ist nichts zu machen, so lange wir die Freiheit, die unsere Vorfahren ziemlich mühsam erstritten haben, verwechseln mit der Freiheit desjenigen, dessen Beruf nun einmal der Kauf und die Nutzbarmachung von Grundstücken ist.»

Raumplanung neu denken

Bauen im Bestand ganz ohne Verstand © Ludmila Seifert

Die Forderungen von Frisch & Co. nach verdichteten Siedlungen und kontrolliertem urbanen Wachstum bestimmen die raumplanerischen und städtebaulichen Diskussionen auch heute. Das in einem Reprint erhältliche Heft (Triest Verlag) gehört auf das Nachttischchen einer/s jeden, der/dem die Zukunft unserer Umwelt nicht egal ist. Es regt dazu an, die gängigen raumplanerischen Instrumente zu hinterfragen und sich für mehr Baukultur in den Stadt- und Ortsplanungen stark zu machen.

Ludmila Seifert

*1969 in Bern, studierte Kunst- und Architekturgeschichte sowie Allgemeine Geschichte an der Universität Bern und der Freien Universität Berlin. Seit 1996 wohnhaft in Chur, leitet sie seit elf Jahren die Geschäfte des Bündner Heimatschutzes, der bedeutendsten Non-profit-Organisation für Baukultur in Graubünden. Daneben ist sie freischaffend tätig sowie Mitglied der kantonalen Natur- und Heimatschutzkommission und im Vorstand des Forums Raumordnung Schweiz aktiv, das sich um ein Umdenken in der Raumplanung bemüht.

www.heimatschutz-gr.ch

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