Der Schweizer Pavillon öffnet sich zum Nachbarn Venezuela © Samuele Cherubini
25. August 2023
Stiftung Baukultur Schweiz | Baukultur persönlich
Sehenswerte 18. Architekturbiennale
Die diesjährige Biennale und die besprochenen Themen sind auch dann noch aktuell, wenn die Ausstellung im November wieder abgebaut wird. Von der diesjährigen Kuratorin Lesley Lokko lernen wir, mit einem anderen Blick auf die Architekturproduktion zu schauen.
Auch wenn sie sich zum 18. Mal wiederholt, ist vieles an der aktuellen Architekturbiennale in Venedig neu, die noch bis zum 26. November über die beiden Ausstellungsorte Giardini (mit den nationalen Pavillons) und das Arsenale, wo insbesondere die Hauptausstellung der Kuratorin zu sehen ist, erstreckt. Lesley Lokko, die diesjährige Kuratorin der Architekturbiennale Venedig hat keine eurozentristische Perspektive, sondern rückt Afrika und die afrikanische Diaspora in den Fokus; doch nicht um andere auszuklammern, sondern um die Ausstellung auf gelungene Weise inklusiv zu gestalten.
Unter dem Titel «The Laboratory of the Future» schauen viele von uns zum ersten Mal neu auf die Architekturproduktion, denn die Geschichte der Architektur sei unvollständig. «Nicht falsch, aber unvollständig», so die Kuratorin mit ghanaisch-schottischen Wurzeln, ausgebildete Architektin und Autorin. Und so tauchen die Besuchenden der grossen Ausstellung im Arsenale (89 Ausstellende, viele Gruppenarbeiten, ein Geschlechterverhältnis von 50/50 mit einem Durchschnittsalter von 43 Jahren) in eine szenisch dichte und ästhetische Schau ein, bei der der Sound eine wichtige Rolle einnimmt. Denn es sind viele Filmbeiträge zu sehen, was daher rührt, dass die Teilnehmenden von Lokko dazu angehalten wurden, nichts Neues zu produzieren, das Abfall generiert. Hingegen kann mit der Form des Videos die Ausstellung weitergezeigt und archiviert werden. Die Botschaft dahinter: die Biennale und die besprochenen Themen sind auch dann noch aktuell, wenn die Ausstellung nach einem halben Jahr wieder abgebaut wird. Die Szenographie wurde konsequenterweise von Lesley Lokko von der letzten Kunstbiennale übernommen, frisch gestrichen in erdig warmen und dunkeln Tönen.
Ente di Decolonizzazione — Borgo Rizza, DAAR © Marco Zorzanella
Wahrscheinlich kann man mehrere Tage im Arsenale verbringen, will man sich alle Videobeiträge anschauen. Der Beitrag von DAAR, irgendwo in der Mitte, lohnt auf jeden Fall einen Halt und wurde mit einem goldenen Löwen für den besten Beitrag ausgezeichnet. Am Beispiel eines Quartiers in Syrakus ging das Team von Alessandro Petti und Sandi Hilal auf die Entstehungsgeschichte eines im faschistischen Italien entstandenen Quartiers ein und besprachen es während einer Sommerschule mit den Bewohnenden, was der Film zusammenfasst. Die Nachbildung von Fassadenstücken dienen in Venedig als Sitzmöglichkeiten und werden je nach Ausstellungsort neu konfiguriert.
Schaut man sich in einem weiteren Raum die Modelle von Florets & Prats aus Spanien an, möchte man selbst gleich als Architektin in den Modellbauraum gehen. Erstaunlich viele textile Arbeiten sind ausserdem zu sehen: Gewobene Weltkarten, abstrakt geknüpfte Gemälde, die als Hybrid von Kunst und Design gelten könnten.
Der lettische Pavillon präsentiert die letzten 10 Biennalen und ihre Themen als Supermarkt der Ideen © Kristaps Deics
Am Ende der Hauptausstellung sollte man noch etwas Aufnahmefähigkeit übrig haben, um die Länderpavillons zu besuchen, die im Arsenale untergebracht sind. Einfach macht es einem dabei der lettische Pavillon, der als Supermarkt der Ideen die letzten 10 Biennalen (seit 2002 ist Lettland Teil der Biennale), beziehungsweise die Themen der teilnehmenden Länder, als farbenfrohe Produkte eines fiktiven Supermarkts präsentiert, die um die Aufmerksamkeit der Besuchenden buhlen. Die sorgfältig und freudvoll gestalteten Produkte aus Pappe sind mithilfe von künstlicher Intelligenz designt worden. Mit den entsprechenden Schlagworten beschriftet, rufen sie die Themen der vergangenen Schauen in Erinnerung.
Der deutsche Pavillon als Materialdepot © ARCH+ Summacumfemmer Büro Juliane Greb
Für die Themen der nationalen Pavillons gibt es wie immer unterschiedliche Herangehensweisen, das übergreifende Thema der Kuratorin wird zudem meist nach dem Zuschlag für die Bespielung der Pavillons – zumindest in der Schweiz – bekannt gegeben. Die Zeiten, in denen grossartige Projekte, also einfach «nur» Architektur ausgestellt wurde, sind aber vorbei. Die Präsentationen werden vielschichtiger, haben oft soziale Themen und vereinen Kunst und Architektur, was so viel heisst, dass die Beiträge auch sehr anschaulich präsentiert sind und oft mehr Tiefe haben, in die man sich je nach Verweildauer begeben kann. Anders als die Kunst, kann Architektur aber konkrete Handlungsanweisungen geben, wofür der Beitrag von Deutschland steht. Mit dem Beitrag Open for Maintenance macht das kuratorische Team um ARCH+ / Summacumfenner / Büro Juliane Greb die Arbeit von Rebiennale sichtbar. Eine Initiative, die an der 11. Biennale entstanden ist und die die Abbruchmaterialien oder den Restmüll, der während einer Ausstellung entsteht, einsammelt und wiederverwendet. Der Deutsche Pavillon ist Materiallager und Arbeitsort, samt Teeküche, Wickeltisch und einer ökologisch korrekten Toilette für die Dauer der 18. Architekturbiennale.
Der Teppich im Schweizer Pavillon mit den Grundrissen der Pavillons der Schweiz und von Venezuela © Martin Lauffer
Die Schweiz steht mit ihrem Beitrag Neighbours paradigmatisch für die neuen nationalen Beiträge. Die Geste, die trennende Mauer zum benachbarten venezolanischen Pavillon abzubauen und in Form von Sitzbänken im eigenen Hof wiederzuverwenden (re-use!), ist etwas sehr subtil und wenig bleibend, auch wenn genau dieser Beitrag aufzeigt, dass nach der Biennale kein Restmüll übrigbleibt (ausser des weissen Teppichs, auf dem die Grundrisse von Carlo Scarpas Pavillon für Venezuela und Alberto Giacomettis Pavillon der Schweiz gezeichnet sind). Ganz ohne Pläne und Grundrisse kann eine Architekturausstellung dann doch nicht auskommen.
bis 26. November 2023
Arsenale, Giardini und div.
Aussenstationen, 30122 Venezia VE
www.labiennale.org
Di–So 11 – 19 Uhr (ab Okt. 10 – 18 Uhr)
Stiftung Baukultur Schweiz
Die Stiftung Baukultur Schweiz ist eine nationale, neutrale und politisch unabhängige Stiftung. Im Frühjahr 2020 gegründet, bringt sie Akteure zusammen, schafft Plattformen, initiiert Prozesse und macht sich stark für jene, welche die Grundlagen der Baukultur inhaltlich ausarbeiten oder diese in der Praxis umsetzen.